Fay. Roman.
Larry Brown, Heyne 2017

Fay

Knallhart und ungeheuer beeindruckend

Die Schriftstellerkarriere des in Oxford, Mississippi geborenen Larry Brown dauerte lediglich achtzehn Jahre. Der ehemalige Feuerwehrmann starb mit nur 53 Jahren an einem Herzinfarkt. In Amerika war der Autor, der fünf Romane veröffentlicht hat, relativ bekannt, aber ins Deutsche übersetzt ist erst jetzt ein Buch von ihm erschienen. Ich hatte den Namen vorher noch nicht gehört, aber die Empfehlung von einer begeisterten Buchhändlerin irgendwann im Radio.

"Fay" erzählt in einfacher, aber keineswegs simpler Sprache die Geschichte eines siebzehnjährigen Mädchens, das die meiste Zeit ihres bisherigen Lebens misshandelt und missbraucht wurde, das nicht zur Schule gehen durfte, sondern Baumwolle, Zitronen und so weiter pflücken musste, das in einem Horror-Haushalt gelebt hat, einer Bruchbude im Nichts am Ende einer namenlosen Straße, wo es für die Kinder nur Dreck zu essen gab, wo ununterbrochen gestritten, geschlagen, geraucht und gesoffen wurde. Das jüngste Kind hat der Vater gegen ein Auto eingetauscht - das ist die Art von Sozialstruktur, über die wir hier reden.
Fay hat ganze vier Dollar in der Tasche, als sie in zerschlissenen und zu klein geratenen Klamotten aufbricht, um zu fliehen, ein besseres Leben zu suchen. Sie will nach Biloxi, ans Meer, hat aber keine Idee davon, wie sie dorthin gelangen könnte oder was sie dort erwartet, aber sie weiß unterm Strich eigentlich überhaupt nichts. Sie hat keinerlei Lebenserfahrung, hatte nie Freunde, war nie in einer größeren Stadt, sie strotzt vor Naivität, die nichts mit Dummheit zu tun hat. Und sie weiß nicht, dass sie atemberaubend aussieht. Folgerichtig versucht gleich der erste Mann, bei dem sie ins Auto steigt, sie zu vergewaltigen.

Und das ist nur die Ouvertüre, denn so geht es weiter. Der nächste Typ ist zwar Polizist, und ein durchaus überwiegend netter, wenn man so will, doch auch die anfangs gute Zeit bei ihm und seiner Frau endet in einer Katastrophe. Die folgende Station ist dann tatsächlich der Golf von Mexiko, die Küste von Mississippi, der Spieler- und Badeort Biloxi, wo Fay eine Stripperin kennenlernt - und dann auch den breitschultrigen Aaron, den Bruder des Stripclubbesitzers. Keine dieser Begegnungen steht unter einem guten Stern, aber mehr über den Inhalt anzudeuten hieße, zu viel von der Spannung zu nehmen, die dieser faszinierende Roman bereithält.

Fast 650 Seiten dauert dieser Horrortrip, der ungefähr in den Achtzigern angesiedelt ist, und Larry Brown lässt nur wenig aus, wobei es keineswegs um Effekthascherei geht - Figuren und Handlung sind ungeheuer konsequent, die staubtrockene und auf kurze Hauptsätze reduzierte Erzählsprache trägt das ihre dazu bei. Der Autor pflegte einen Stil, der ganz auf die Wahrnehmung der Figuren ausgerichtet ist, wobei fast schon akribisch und übervollständig Abläufe, Handlungen, Umgebungsdetails und Nebensächlichkeiten aufgezählt werden - etwas, das eigentlich nicht funktionieren kann, aber hier tut es das. Es müssen hunderte von Zigaretten sein, die in diesem Roman angezündet werden, Dutzende Tassen Kaffee, die getrunken werden, und kistenweise eiskalte Biere, die von irgendwem geöffnet werden. Brown beobachtet seine Romanfiguren beim An- und Ausziehen, beim Essen, beim Fernsehen und Autofahren, zeigt sie dabei, sich zu langweilen, und natürlich auch beim Sex, bei Auseinandersetzungen, bei Straftaten und haarsträubenden Grausamkeiten. Oder, wenn man so will: In der ganzen Ausweglosigkeit, die sie umgibt.

Denn darum geht es in diesem Buch. Fay hat von Anfang an keine Chance, hatte nie eine, und jedes bisschen Glück, jeder sprichwörtliche Silberstreif am Horizont muss immer mit mindestens doppelt so viel Ungemach bezahlt werden, eigentlich mit dem dreißig-, hundertfachen. Trotzdem hofft man mit den Figuren, von denen keine nur gut ist, sondern höchstens etwas weniger schuldig. Wobei die Waage auch noch klar zu Ungunsten des männlichen Romanpersonals ausschlägt, um es vorsichtig auszudrücken.

Okay, der Roman könnte auch zweihundert Seiten kürzer sein und das Ende hat ein bisschen zu viel von einem klassischen Showdown, aber hiervon abgesehen ist "Fay" eine großartige, knallharte, extrem glaubwürdig erzählte und wirklich beeindruckende Geschichte, wie ich sie so noch nie gelesen habe - allerdings keine für verträumte Romantiker oder auf andere Weise zart besaitete Seelen. Das Buch ist bei "Heyne Hardcore" durchaus richtig platziert. Wer sich das zutraut, sollte es unbedingt lesen.

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pfeil Übersicht: Tom Liehr

Landeier

Tom Liehrs aktuelle Veröffentlichung:
LANDEIER.
ROMAN.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Oktober 2016
ISBN: 978-3499290428
EUR 14,99

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